Bodo und sein Team schreiben dazu:
Hallo Annette,
hier schreibt Dir Sven, Bodos Regisseur. Es gibt eine einfache Möglichkeit, den vermeintlichen Widerspruch aufzulösen. Sie bedingt allerdings einen Perspektivwechsel, den ich Dir hiermit ans Herz legen will.
Der Widerspruch verschwindet, wenn Du annimmst, dass es in dem Lied gar nicht um Gewalt gegen eine Frau geht und Gewalt als solche auch nicht propagiert wird. Mein Vorschlag daher: Stell’ Dir vor, der Autor meint etwas ganz anderes als Du hörst. Die Rede ist hier nicht von "ist nicht so gemeint". Das wäre der Fall, wenn Bodo zwar für Gewalt plädierte, das dann aber relativierte. Doch gehen wir mal davon aus, dass er gar keine Gewalt propagiert und machen das Gedankenexperiment.
Aus unserer Sicht geht es in dem Lied vor allem um einen Menschen, einen Mann, der zu konfliktscheu ist, zu unterwürfig und der zu wenig Selbstvertrauen hat, als dass er in Konfrontationssituationen zu sich selbst und seinen Bedürfnissen stehen könnte. Er schreckt zurück, er wird stumm, er traut sich nicht. Lieder wie Bodos "Ich trau mich nicht" und andere klingen hier schon an.
Dieser Mann wird so verzweifelt über seine Lebensrealität, so frustriert über den scheinbaren Teufelskreis, dass er sich in Phantasien flüchtet. Er kann offensichtlich sein Problem nicht intrinsisch, durch eine eigene Veränderung lösen, so dass ihm scheinbar nur der Ausweg bleibt, es im Außen zu tun, und den Auslöser seines Unwohlseins und seiner Qual, die ständige Erinnerung daran, dass er zu feige ist, für seine Bedürfnisse einzustehen, auf endgültige Art und Weise aus dem Weg zu räumen: durch Mord.
Gerade in der Gewaltphantasie und dem Expliziten der Tatbeschreibung spiegelt sich die Größe der Verzweiflung und zugleich auch die Tragik seiner Selbstverleugnung wider und - würde er es durchführen - vor allem die Tragödie, die das Opfer zu erleiden hätte.
Doch er zieht es nicht durch. Er kann es nicht! Da denkt man natürlich "Zum Glück!" und zugleich kann man aber auch mit dem Mann mitfühlen und denken: "Du armer Wicht!". Diese Ambivalenz wiederum ist interessant, spannend und kunstvoll. Sie bringt auch das Publikum in eine emotionale Falle: um des Mannes willen wünscht man sich, dass er endlich mal zu sich stehen kann, um der Frau willen wünscht man sich natürlich, dass er gerade mit der Axt in der Hand so ein kleiner Wicht bleibt, wie er es bisher ist.
Es wird ein Problem, eine Herausforderung gezeigt, ohne dass eine Lösung angeboten wird. Mord ist jedenfalls keine Lösung, das wird sehr deutlich! Weiterhin stumm und starr zu bleiben und damit die Beziehungsmechanik aufrecht zu erhalten, ist aber auch keine Lösung. In dieser Beziehung muss sich etwas ändern, ansonsten - so der Inhalt des Liedes - mündet es am Ende doch noch in einer Katastrophe.
Kurz gefasst geht es darum, zu sich und seinen Bedürfnissen zu stehen, sie zu artikulieren und Konflikte darüber auszuhalten statt immer nur klein beizugeben und am Ende in seinem Frust nur noch radikale, schädliche Auswege sehen zu können. Ein durchaus wiederkehrendes Thema bei Bodo, hier in einer Variante vorgetragen, die einen kolossal schlechten Ausgang prognostiziert.
Zugleich kommt es mit einer Musik daher, die in ihrer Leichtigkeit und Verspieltheit die Drastik des Textes konterkariert und damit satirisch spiegelt; es entsteht eine Groteske im klassischen Sinne, eine Schreckensvision, der man sich nur noch durch Lachen stellen kann.
Schaut man so auf das Stück, kann von einem Aufruf zur Gewalt an Frauen, einer Verherrlichung von Femiziden oder einer "Gewaltverniedlichung" nicht mehr die Rede sein. In der Folge wird auch nichts ad absurdum geführt, sondern das im Konzert vorher in anderen Stücken bereits Gesagte wird in eine Dystopie verlängert und gesteigert, die erst recht die Aussage des vorher Vermittelten bekräftigt: "Steht für Euch ein! Steht zu Euren Bedürfnissen, artikuliert Euch, sprecht miteinander, seid empathisch! Denn sonst führt der Weg in die Katastrophe!" Und zwar für beide Seiten, denn weder will jemand ermordet werden, noch werden Menschen gerne aus Verzweiflung zu Mördern!
Ich hoffe, dass ich Dir diesen Perspektivwechsel nahelegen konnte.
Häufiger höre oder lese ich, dass etwas, was man bei einem Künstler - oder jeder anderen Person, die man schätzt - hört, sieht oder liest, überhaupt nicht zu dem passe, was er/sie sonst tue. Ich wünsche mir dann immer, die Kritisierenden suchten nach dem, was die Kongruenz herstellen kann.
Die betreffende Person wird sich sicher nicht mit Absicht widersprechen, also liegt es nahe, dass es aus ihrer Perspektive etwas gibt, worin die infrage stehende Handlung ausgesprochen logisch, kongruent, konsistent und folgerichtig erscheint. Da die Kritiker i.d.R. erst mal nicht dieser Meinung sind - sonst würden sie es nicht als absurd erleben - kann der Wechsel in die Perspektive der anderen Person in jedem Fall eine Erweiterung des Horizontes, einen interessanten Gedanken oder einen wertvollen Impuls bedeuten. Wodurch sich schlussendlich vermutlich sogar der Widerspruch auflösen lässt. Was nicht heißt, dass man einer Meinung sein muss, aber zumindest erscheint dann das Gehörte nicht mehr widersinnig.
Herzliche Grüße!
Sven